Gefühle

Wissen kann man mitteilen, Weisheit aber nicht. Man kann sie finden, man kann sie leben, man kann von ihr getragen werden, man kann mit ihr Wunder tun, aber sagen und lehren kann man sie nicht.

Hermann Hesse, Siddhartha

Gefühl – das Unmittelbare

Gefühle treten unvermittelt auf. Sie sind nicht das Ergebnis eines Plans, sie sind nicht wählbar oder steuerbar. Ihre Zeit ist der Augenblick, und nur dort haben sie Geltung. Sobald sie erfahren werden, bestimmen sie Wahrnehmung und Handlung. Sobald der Moment vorbei ist, sind sie verschwunden. Erinnerung hält etwas fest, doch sie ist bereits ein anderes Phänomen: ein Bild, eine Rekonstruktion, eine Spur, die nicht mit dem ursprünglichen Erleben identisch ist.

Gefühle sind singulär. Auch wenn wir dieselben Begriffe verwenden, bleibt das, was jeder Einzelne empfindet, unvergleichlich. Wir sprechen von „Angst“, „Liebe“, „Vertrauen“, doch das, was diese Worte bezeichnen, ist nicht dasselbe, sondern nur sprachlich aufeinander bezogen. Resonanz ist möglich, Identität nicht. Darin liegt die Unteilbarkeit des Gefühls. Es lässt sich mitteilen, beschreiben, symbolisieren, aber niemals vollständig übertragen.

Gerade in dieser Eigenart unterscheiden sich Gefühle von allen vermittelten Formen. Sie gelten nur im Moment, sie sind flüchtig, aber sie setzen den Akzent, nach dem sich das Erleben ordnet. Sie entscheiden, was im Augenblick wichtig ist, was wir sehen, wie wir handeln. Gefühle schaffen keine Dauer, aber sie bestimmen die Richtung, in der Dauer überhaupt erst gesucht werden muss.

Wissen – das Dauerhafte

Wissen entsteht aus Sammlung, Vergleich und Ordnung. Einzelne Erfahrungen werden festgehalten, in Begriffe gebracht, geprüft und bestätigt. Es ist nicht plötzlich, sondern das Ergebnis von Prozessen, in denen Wiederholung und Verbindlichkeit hergestellt werden. Wo Gefühle an den Augenblick gebunden bleiben, schafft Wissen eine Form, die über den Augenblick hinaus trägt.

Wissen ist nicht privat. Es gewinnt seine Geltung erst im Austausch. Wer etwas weiß, bezieht sich auf Formen, die er nicht selbst geschaffen hat, und macht sie zugleich anderen zugänglich. Wissen verlangt Bestätigung, Weitergabe, Anerkennung. Es ist von Anfang an sozial, und gerade darin liegt seine Stabilität.

Wissen bewahrt Vergangenes, eröffnet Zukunft und macht Wiederholung möglich. Es löst sich vom ursprünglichen Moment und behält seine Geltung auch unabhängig vom Erleben, in dem es entstand. Damit gibt es Dauer, wo Gefühle vergehen. Es schafft Verlässlichkeit, wo Gefühle nur gelten, solange sie erfahren werden.

Doch dieser Gewinn geht mit einem Verlust einher. Das Einmalige wird verallgemeinert, das Konkrete in Kategorien eingeordnet. Das, was als unvergleichlich erschien, wird vergleichbar gemacht. Wissen fixiert, indem es reduziert. In dieser Reduktion liegt der Preis der Dauer.

Distanz und Zurückhaltung

Gefühle drängen auf Unmittelbarkeit. Sie gelten absolut, solange sie erfahren werden. Wissen schafft Distanz. Es benennt, prüft, vergleicht und relativiert. Dadurch verändert sich das Gefühl. Was zuvor nur im Moment gültig war, erscheint nun in einem Rahmen, der über den Moment hinausgeht.

Diese Distanz ist ambivalent. Einerseits eröffnet sie Orientierung. Ein überwältigendes Gefühl verliert seine Ausschließlichkeit, wenn es begriffen und eingeordnet wird. Angst, die lähmt, wird handhabbar, sobald sie erklärbar wird. Vertrauen, das fragil ist, gewinnt Halt, wenn es abgesichert wird. Andererseits mindert dieselbe Distanz die Eigenbedeutung des Gefühls. Was zuvor einzigartig war, erscheint als Beispiel unter vielen. Was unmittelbar galt, wird relativiert.

Im Modell der Synthalpie ist diese Differenz unvermeidlich. Gefühle bleiben an das Erleben des Einzelnen gebunden. Wissen macht sie verständlich, indem es sie in allgemeine Formen fasst. Doch damit werden sie verändert. Die Spannung zwischen beiden Seiten ist nicht auflösbar. Ohne Distanz bliebe das Gefühl eingeschlossen, ohne Bezug auf Gefühle wäre Wissen leer. Die Schwierigkeit liegt darin begründet, dass beides zugleich gelten muss – und sich doch gegenseitig begrenzt.

Beispiele: Liebe, Angst, Vertrauen

Liebe ist als Gefühl unmittelbar, unteilbar, nicht begründbar. Sie gilt, solange sie erfahren wird, und entzieht sich jeder Dauer. Wissen greift Liebe auf, indem es Begriffe, Erzählungen, Institutionen hervorbringt. So entsteht eine Form, die beständig ist, die anerkannt und weitergegeben werden kann. Doch diese Form mindert die Unmittelbarkeit. Liebe erscheint nicht mehr nur als Ereignis, sondern auch als Rolle, als Regel, als kulturelles Muster.

Angst bindet im Moment. Sie engt Wahrnehmung ein und verschließt Handlungsmöglichkeiten. Wissen schafft Distanz, indem es Ursachen benennt und Strategien eröffnet. Dadurch wird Angst handhabbar. Doch wenn sie ausschließlich als Störung begriffen wird, verliert sie ihren Ernst. Sie wird reduziert auf Abweichung, und ihre Bedeutung als Ausdruck einer existentiellen Lage geht verloren.

Vertrauen ist als Gefühl fragil und nicht beweisbar. Es lässt sich fühlen, aber nicht garantieren. Wissen stabilisiert Vertrauen, indem es Verfahren und Institutionen hervorbringt, die Verlässlichkeit sichern. Damit wird Dauer erreicht, dort wo  gefühltes Vertrauen jederzeit gefährdet ist. Doch wenn Vertrauen vollständig durch Regeln ersetzt wird, verschwindet es als Erfahrung. Was bleibt, ist nicht mehr Vertrauen, sondern nur noch Regel.

Diese Beispiele zeigen die doppelte Bewegung. Wissen macht Gefühle beständig und teilbar, aber nur, indem es sie verändert. Es sichert sie, aber es entzieht ihnen Eigenes. Es erhält sie im Sozialen, aber es mindert sie als Erleben.

Integration ins Modell

Gefühl und Wissen folgen verschiedenen Logiken. Gefühle sind individuell, gegenwärtig, vergänglich. Wissen ist sozial, dauerhaft, übertragbar. Beides lässt sich nicht auf das andere zurückführen. Zwischen beiden besteht eine Spannung, die nicht zu beseitigen ist.

Im Modell wird diese Spannung durch Synthalpie gehalten. Synthalpie bedeutet: Gefühle werden in eine Form gebracht, die im Sozialen teilbar ist, ohne dass ihre Herkunft im Erleben verleugnet wird. Zugleich bleibt Wissen an Erfahrung gebunden, damit es nicht erstarrt. Synthalpie ist die Bewegung, in der beides zusammenkommt, ohne dass eines im anderen aufgeht.

Die Schwierigkeit liegt darin, dass unser Denken und Handeln selten beides zugleich zulassen. Wir neigen dazu, das eine im anderen zu verdrängen. Wir verlieren uns im Gefühl und geben die Ordnung preis, oder wir halten am Wissen fest und blenden die Intensität des Erlebens aus. Doch erst wenn beides gilt, entsteht eine Ordnung, die sowohl lebendig als auch stabil ist.

Philosophische Konsequenz

Gefühl und Wissen sind eigenständig. Keines ersetzt das andere. Gefühle vergehen im Moment, Wissen trägt über die Zeit. Wissen schafft Distanz zum Gefühl und macht es verständlich, doch dieselbe Distanz bedroht seine Eigenart.

Die Spannung lässt sich nicht beseitigen. Sie ist nicht Nebenprodukt, sondern Kern. Moral entsteht weder im Gefühl allein, noch im Wissen allein, sondern in der Korrelation.

Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel.

Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft

1 thought on “Gefühle

  1. Noch nie habe ich so klar den Unterschied und den Zusammenhang, das Verbindende zwischen den beiden Begriffen „Wissen und Gefühl“ bewusst gesehen.
    Dieses Kapitel ist mir persönlich von allen am wichtigsten, am nähsten.

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