Handlungsgründe

»Ich frage mich, ob das geistige Leben nicht dann am besten und umfassendsten abgesichert ist, wenn allen bewusst ist, dass die Gesetzmäßigkeiten und Bedingungen von Rechtschaffenheit im Wirkungsprozess des Universums inbegriffen sind; wenn allen klar ist, dass der Mensch mit seinen bewussten Bestrebungen, seinen Zweifeln, Versuchen und Niederlagen, mit seinen Sehnsüchten und Erfolgen, von jenen Kräften angetrieben und getragen wird, die die Natur gestalten.«

John Dewey 1898

Die Bedeutung der Theologie als wichtiges Werkzeug, uns dabei zu helfen, unsere Welt besser zu verstehen und zu interpretieren ist im Anspruch begründet, absolute Erkenntnis, Wahrheit, Gewissheit und eine Beziehung zu einer übernatürlichen Macht bereitzustellen. Sie kann eine wertvolle Quelle der Hoffnung sein, indem sie den Glauben an eine beständige jenseitige Welt stärkt. Dies kann helfen, bei der Suche nach Sinn und Bedeutung in einer chaotischen Welt, der man vollständig ausgeliefert ist, zu unterstützen. Darüber hinaus betont die Theologie auch die Notwendigkeit, moralisch richtig zu handeln. Sie lehrt uns, dass es ehrlich und edel ist, sich für andere einzusetzen und an unseren moralischen Grundwerten festzuhalten. Auf diese Weise können wir unseren Mitmenschen gegenüber fair sein, was wiederum einen positiven Einfluss auf das Zusammenleben in der Gesellschaft hat. Theologie lehrt uns, mehr über die tieferen Bedeutungen des Lebens zu lernen, diesem mehr Sinn zu geben und Wahrheit in uns selbst sowie in unseren Beziehungen zur Natur und dem Jenseits zu finden. Die Grenzen des menschlichen Wissens werden nicht durch Experimente verifiziert. Sie sind, von einer jenseitigen, außernatürlichen Macht vorgegeben.

Auch die Naturforschung ist ein wichtiger Bestandteil unserer Kultur und Gesellschaft. Durch sie erhalten wir wertvolle Einblicke in die Struktur und Funktionsweise unserer Umwelt. Gleichzeitig stellt sie eine Herausforderung für unser rationales Denken dar, da ihre Ergebnisse ständigen Wandlungen unterworfen sind. Ihr Vorankommen macht den Glaube an eine beständige jenseitige Welt überflüssig und wird ersetzt durch den Glauben an eine allmächtige „Technik“. In der Naturforschung spielen die Begriffe „Fortschritt“ und „Wissen“ eine zentrale Rolle. Durch Fortschritt gelangen wir zu neuen Erkenntnissen, die uns helfen, die Welt besser zu verstehen. Gleichzeitig ermöglicht uns dieses Wissen, die Umwelt besser zu gestalten und dadurch lebenswerter zu machen. In der Naturforschung gibt es jedoch auch Grenzen, da sie sich lediglich mit dem materialistischen Aspekt der Welt befasst. Sie ist nicht in der Lage, uns Aufschlüsse über die Bedeutung des menschlichen Lebens zu geben. Ein weiteres Problem der Naturforschung ist ihr Umgang mit dem Thema Offenheit. Durch Patente und andere Formen geistigen Eigentums werden Forschungsergebnisse oft vor der Allgemeinheit verborgen. Dies verhindert den Fortschritt der Menschheit, da neue Erkenntnisse nicht gleichzeitig allen zur Verfügung stehen. Ebenso behindert es auch die Kommunikation zwischen Wissenschaftlern, da Informationen oft nur schwer zugänglich sind. Desgleichen ist die finanzielle Unterstützung für die Naturforschung ein Problem. Es wird immer noch sehr viel Geld in die militärische Forschung, anstatt in friedliche Zwecke investiert. Dies führt dazu, dass die Mittel für die Naturforschung knapp sind und viele Projekte gar nicht erst durchgeführt werden können, obwohl es dringend notwendig ist, die Naturforschung weiterzuentwickeln und ihren Resultaten mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Gleichzeitig sollten wir uns aber auch bewusst sein, dass sie ihre Grenzen hat und dass es andere Bereiche gibt, in denen wir gleichermaßen nach Antworten suchen müssen.

Während die Naturforschung rasant als Wissenschaft der Erkenntnis, des Verstehens und der Beherrschung der natürlichen Welt mehr und mehr Anerkennung findet, uns lehrt, dass alles im Universum im Fluss ist und der Fortschritt unserer Zivilisation kein Ende kennt, löst sie allmählich die Theologie auch bezüglich der Transzendenz unseres Daseins ab. Obwohl so der Einfluss der Naturforschung auf unser Leben auf der Erde vergrößert wird, sie uns bei der Beantwortung grundlegender Fragen über die Natur und den Kosmos unterstützt, sie neue Technologien entwickelt, die unser Leben und unsere Umwelt verbessern können, offenbart sie nicht die Bestimmungsgründe gesellschaftlichen Zusammenlebens. Sie definiert nicht, was “besseres Leben” bedeutet, was die Moralität einer Handlungsweise ist. Dies sind jedoch wesentliche Faktoren für das gesellschaftliche Zusammenleben, für Entscheidungen, die auf der Grundlage gemeinsamer Werte getroffen werden. Letztere beruhen auf uralten emotionalen Infrastrukturen, die einer Gemeinschaft freier und gleicher Individuen, die sich an bestimmte Regeln halten, den Vorzug geben. Lassen sich daraus gemeinschaftliche Handlungsweisen und gemeinsame, verpflichtende Wertvorstellungen entwickeln?

Ferne Utopien, Versprechungen, theoretische Gesellschaftsmodelle scheitern stets am realen, gegenwärtigen Leben der Menschen. Das sind nicht die Ausgangspunkte für mögliche Entwicklungen, Veränderungen, Evolution. Es sind die gewöhnlichen, alltäglichen Erfahrungen, die freie und gleiche Individuen gemeinschaftlich agieren lassen, während Regeln befolgt werden und kooperiert wird. Die assoziierte Idee dahinter ist die Demokratie – in erster Linie ein moralisches Konzept. Es geht nicht bloß darum, die Legalität zu befolgen (Demokratie als Staatsform), sondern vielmehr um die Unterstützung und den Schutz aller freien und gleichen Individuen innerhalb einer Gemeinschaft. Dies bedeutet, dass demokratisches Handeln vor allem unser Verhalten in Bezug auf andere Menschen betrifft – sei es bei der Schaffung von Regeln, an die sich alle beteiligten Personen halten müssen, oder bei der Kooperation mit anderen, um gemeinsame Ziele zu erreichen. Wenn wir uns also entscheiden, demokratisch zu handeln, müssen wir uns an unseren moralischen Rahmen und an bestimmte Regeln halten, damit alle Beteiligten fair behandelt und ihre Rechte respektiert werden. Die Verpflichtung zu gemeinsamen Wertvorstellungen und Klarheit über unsere moralischen Verantwortlichkeiten lassen gesellschaftliche Handlungsweisen entstehen, von denen letztlich jedes Individuum gleichermaßen profitiert. Die Idee der Demokratie wird so ein wesentlicher Bestimmungsgrund für gesellschaftliches Zusammenleben und die Gestaltung der Zukunft.

Daraus auch Handlungsstrategien zur Lösung von Problemen entstehen zu lassen, setzt eine Bereitschaft voraus, sich mit anderen auseinanderzusetzen und kooperative Antworten auf gemeinsame Fragen zu finden. Es ist daher die wesentliche Aufgabe der “Demokratiebildung”, Menschen darin zu unterstützen, diese Kompetenzen zu entwickeln. Individuelle Bildung als fortwährender Lernprozess, der befähigt, die durch gesellschaftliche Entwicklung entstehenden Probleme hin zu einem “besseren Leben” für alle zu lösen. Immanuel Kant hat diesbezüglich mit dem kategorischen Imperativ einen ersten Schritt zur Grundlegung gemeinsamer Werte, die zur Beurteilung der Moralität von Handlungsweisen Einsatz finden, skizziert. Bestrafung bei Widersetzung spielt dabei keine Rolle, Ächtung durch die eigene Gesellschaft schon eher. Man gehört nicht mehr dazu, wird ausgeschlossen. Solche Ängste können demokratische Werte untergraben und das Zusammenleben in einer Gesellschaft erschweren. Bildung, als Grundlage sozialer Entwicklung, ist daher nicht nur als Wissensvermittlung, sondern auch als Handlungsstrategie zu verstehen, und ist notwendige Voraussetzung für Demokratie.

Obwohl schon Darwin uns in eine Reihe mit den übrigen Organismen gestellt hat und seine Theorien heutzutage hoffentlich allgemein anerkannt sind, fällt es uns doch ausgesprochen schwer, die Konsequenzen anzuerkennen. Die kulturellen Gewohnheiten, die uns von Natur aus eigen sind, treten in so starker Abgeschiedenheit zu den übrigen Arten auf, dass wir nur ungern unsere Sonderstellung preisgeben. Diese Einstellung ist verständlich, aber unberechtigt. Die Unterscheidung zwischen Natur und Zivilisation hält uns davon ab, natürliche Prinzipien, wie z.B. Kooperation, anzuerkennen und daraus “Werte” abzuleiten. Nur räumlich und zeitlich nahe Ereignisse, persönliche Betroffenheit und emotionale oder materielle Kosten lassen Civis im Wesentlichen auf sein Schicksal reagieren. Deswegen ignoriert man Umweltzerstörung, den Klimawandel, hilft aber altruistisch, wenn ein benachbarter Fluss über das Ufer tritt, oder Hilfsbedürftige vor der Haustür stehen. Diese Prinzipien, die für alle Organismen gleichermaßen gelten, sind es letztendlich, die uns zu dem machen, was wir sind. Wenn wir uns von der engstirnigen Sicht befreien und die Natur als unser wahres Selbst betrachten, dann beginnen wir auch zu verstehen, welche Rolle unsere Umwelt in unserer Entwicklung spielt. Wie Dewey sagt:

»Die Natur ist kein Museum; sie ist eine Werkstatt.«

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