Determination

Nie hatte er den Himmel so blau gesehen wie heute. Und Zugvögel kamen dahergesaust. Sie kamen aus dem Ausland und waren über die Ostsee gereist, sie waren gerade auf Smygehuk zugesteuert, und jetzt waren sie auf dem Wege gen Norden. Da waren sicher viele verschiedene Arten, aber er konnte keine andere erkennen als die wilden Gänse; sie kamen in zwei langen Reihen geflogen, die sich in einem Winkel trafen.

Selma Lagerlöf: Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden

Albert Einstein hat die Vorstellung revolutioniert, dass die Bewegung von Körpern im Raum durch eine Kraft hervorgerufen wird, die als Gravitationskraft beschrieben wird. Ein ähnlicher Paradigmenwechsel wird in der soziologischen Systemtheorie benötigt, um eine größere Abstraktion und längere Geltungsdauer der Beschreibung sozialer Dynamik zu erreichen und der jahrhundertealten Suche nach Erklärung von Moral und handlungsleitenden Kategorien zu entgehen. In Analogie zur Theorie, die die Vorstellung von der Gravitationskraft als Ursache der Bewegung von Körpern im Raum revolutioniert hat, soll hier verdeutlicht werden, wie diese Struktur auf die soziologische Systemtheorie anwendbar ist. Den schematischen Diagrammen entnimmt man vergleichend: ‚Körper‘ (Masse und Energie) sind die Subjekte, Akteure oder Elemente, die als Individuum bezeichnet werden. Die ‚Bewegung‘ dieser Individuen im ‚Raum‘ des sozialen Systems wird als soziale Handlung (inklusive Kommunikation) bezeichnet. Und die ‘Kraft’, die diese Bewegung antreibt, ist entsprechend die Synthalpie.

Es gibt mehrere Ansätze und Theorien in der Soziologie, die sich mit der Analyse sozialer Systeme und der Rolle von Individuen innerhalb dieser Systeme beschäftigen. Beispiele hierfür sind die systemtheoretische Soziologie, die sozialstrukturelle Theorie, die Akteur-Netzwerk-Theorie, die Theorie der sozialen Handlung, usw. All diese Theorien versuchen, die Wechselwirkungen und Dynamiken zwischen Individuen und ihrer Umwelt zu erklären und zu verstehen. Es werden jeweils unterschiedliche Ansätze und Begriffe verwendet, um dies zu beschreiben. Eine allgemeingültige neue Theorie darzustellen, ohne konkreter über den Kontext und die spezifischen Ideen in der Soziologie zu schreiben, ist ein subtiles Problem. Allerdings zielt die Idee eines Paradigmenwechsels in der Soziologie, der auf eine Analogie zur Revolution von Einstein in der Physik verweist, auf die Notwendigkeit ab, eine abstrakte Beschreibung zu erhalten, die sich von traditionellen Erklärungen unterscheidet. Ziel dabei ist es, eine neue Theorie zu entwickeln, die die Interaktionen und Beziehungen zwischen Individuen als Erzeugende des sozialen Systems betont und die Rolle von Synthalpie als treibende Kraft dieser Interaktionen untersucht.

Die Bezeichnung ‘sozial’ wird hier im Sinne von „gemeinsam“ oder „verbunden“ verwendet, um auf die Verbindung und Wechselwirkung von Individuen hinzuweisen und der kantischen Autonomie des Willens Gemeinsamkeit entgegenzusetzen. Individuen sind Lebewesen, die zur Reproduktion und Evolution fähig sind, wie Pflanzen, Bakterien, Menschen, Tiere und Pilze. Diese Definition von Individuen und sozialen Systemen unterstreicht ihre Unbegrenztheit, die in der Unmöglichkeit der Abschirmung von Synthalpie letztendlich zum Ausdruck kommt.

Da Synthalpie auf das Individuum zurückwirkt, ist sie selbst ein ebensolches und die Zusammenhänge, die sie beschreibt, sind nichtlinear. Dies bedeutet, dass soziale Systeme sich selbst erschaffen und dies setzt enge Grenzen für eine rationale, moralische, ethische und gerechte Gestaltung. Diese Idee unterstreicht die Komplexität und die Unvorhersehbarkeit sozialer Dynamiken und die Notwendigkeit, diese auf mehreren Ebenen und aus verschiedenen Perspektiven zu betrachten. In diesem Prozess der Selbsterschaffung, für den der chilenische Neurobiologe Humberto Maturana den Begriff Autopoiesis geprägt hat, entstehen eigene Gesetzmäßigkeiten, die systemübergreifende Eingriffe und Steuerung erschweren. Regeln und Dynamiken können sich auf unvorhersehbare Weise verändern, Eingriffe von außen können daher unerwartete Auswirkungen haben und es kann schwierig sein, die gewünschten Ergebnisse zu erzielen. Es ist daher wichtig, ein tiefes Verständnis der sozialen Systeme zu haben, in denen man intervenieren möchte, um die möglichen Auswirkungen von Eingriffen vorherzusagen und zu minimieren. So entstehen Konventionen, Regeln, Maßstäbe wie Moral und Gerechtigkeit spontan und damit irreversibel als emergente Folge aus den Wechselwirkungen und Dynamiken innerhalb sozialer Systeme. Diese sind nicht statisch und sind sowohl Evolution als auch Zerstreuung (Dissipation) unterworfen. Das bedeutet, dass sie sich im Laufe der Zeit verändern und an die Bedürfnisse und Anforderungen des sozialen Systems anpassen können, oder auch untergehen können, wenn sie nicht mehr relevant sind.

Synthalpie ist eine Eigenschaft, die den Zustand des sozialen Systems beschreibt und als solche ist sie weder eine intensive, noch eine extensive Kenngröße. Sie skaliert nichtlinear mit der Anzahl der Individuen, die das System konstituieren. Das bedeutet, dass die Synthalpie eines Gesamtsystems, das aus Subsystemen besteht, weder additiv ist noch sich als Mittelwert ergibt. Es ist also komplex und nicht trivial zu quantifizieren und zu beschreiben – eine weitere Analogie zur Theorie Einsteins. Es ist eine emergente Eigenschaft, die nicht direkt von Eigenschaften und Verhalten einzelner Individuen abgeleitet werden kann. Das Folgende macht anschaulich, wie die Synthalpie eines sozialen Systems von der Anzahl und der Art der Individuen, die es konstituieren, verändert wird. Wenn beispielsweise die Anzahl der gleichartigen Individuen verdoppelt wird, kann dies dazu führen, dass die Kooperation und Zusammenarbeit innerhalb des Systems beeinträchtigt wird, da die Ressourcen, die für das Überleben notwendig sind, begrenzt sind. Auch das Hinzufügen von andersartigen Individuen kann die Synthalpie beeinflussen, da diese Individuen möglicherweise unterschiedliche Bedürfnisse und Verhaltensweisen haben. Insgesamt zeigt dies, dass Synthalpie von vielen Faktoren abhängig ist, die nicht nur die Anzahl der Individuen im System berücksichtigen, sondern auch die Art der Individuen und ihre Interaktionen und Beziehungen innerhalb des Systems. Zudem bewirkt sie die Transformation externer Elemente bei deren Integration in ein bestehendes System.

Synthalpie als Kenngröße zur Beschreibung des Zustands eines sozialen Systems ist tatsächlich eine abstrakte Größe, nicht direkt messbar, jedoch ist sie berechenbar. Die praktische Nützlichkeit dieser Kenngröße liegt darin, dass Veränderungen der Synthalpie eines Systems durch Prozesse wie Handlung, Kooperation und Kommunikation vereinfacht sichtbar werden, wenn einige der zugrunde liegenden Bedingungen des Systems konstant bleiben. Dies ermöglicht es, Veränderungen im sozialen System zu identifizieren und zu analysieren, ohne dass es notwendig ist, jeden Aspekt des Systems zu untersuchen. Es ermöglicht auch die Identifizierung und Beurteilung von Trends und Mustern in den Veränderungen, die sich auf die Entwicklung und Dynamik des Systems auswirken können. Ein Beispiel könnte sein, dass die Geburt von Nachkommen in einer stabilen und bewährten Umgebung mit ausreichender Verfügbarkeit von Ressourcen einen Zuwachs an Synthalpie im sozialen System bewirkt, der messbar ist und vom Individuum festgestellt werden kann. Dies kann dazu führen, dass dieser Zustand positiv wahrgenommen wird und als erstrebenswert bewertet wird. Auch kann ein Anstieg von Synthalpie auf die verbesserte Fähigkeit des Systems zurückzuführen sein, Ressourcen effektiver zu nutzen und die Sicherheit und das Überleben der Individuen innerhalb des Systems zu erhöhen. Es zeigt, dass die Synthalpie nicht nur von der Anzahl der Individuen im System, sondern auch von den Umweltbedingungen und den Ressourcen abhängt.

Solche kleinen Änderungen (positiv wie negativ) sind die Ursache sozialer Handlung und Kommunikation. Sie finden auf unterschiedlichen Skalen und Ebenen statt – ihre Summe ergibt die Synthalpie eines sozialen Systems. Es ist zu beachten, dass diese Veränderungen nicht immer vorhersehbar sind. Sie können sowohl durch individuelle Entscheidungen als auch durch das Zusammenwirken von mehreren Individuen verursacht werden und zusätzlich zeitlich variieren. Jede Handlung, jede Kommunikation, jede Entscheidung, die von Individuen getroffen wird, hat Auswirkungen auf die Synthalpie des Systems und beeinflusst dessen Entwicklung und Dynamik. Dieses Verständnis ist notwendig, will man die Auswirkungen von sozialen Handlungen besser vorhersagen und beeinflussen. Wichtig ist auch, sich bewusst zu sein, dass die Rolle des ‘Beobachters von außen’ nicht möglich ist – immer ist der beobachtend Wahrnehmende aktives Bestandteil. Wenn die individuell festgestellten Zuwächse an Synthalpie „unspürbar“ klein sind, können oft Handlungen und soziale Ereignisse auf größerer Skala, wie Unionen, Trennungen, Tod, Krieg, Naturkatastrophen usw. dazu beitragen, erhöhte Zuwächse an Synthalpie zu erreichen. Diese Ereignisse können vorübergehend negative Auswirkungen haben, aber in der Perspektive der langfristigen Entwicklung des sozialen Systems werden sie als notwendig erachtet, um größere Synthalpie zu erreichen. Die auf größerer Skala stattfindenden Handlungen bewirken meist tiefgreifende Veränderungen und beeinflussen die Systeme überaus stark – sowohl positiv als auch negativ.

Das Ziel jedes! sozialen Systems besteht nicht darin, einen Gleichgewichtszustand zu erreichen oder darin zu verharren, sondern Ziel ist der Fortbestand in einem Zustand maximaler Synthalpie.

Einige konkrete Beispiele für die vorausgegangene Abstraktion sind:

  • Entwicklung und Aufrechterhaltung von Gruppenidentität und Kultur
  • Sicherstellung des Überlebens und Wohlbefindens der Individuen
  • Förderung der Kooperation und Zusammenarbeit
  • Erreichung von wirtschaftlicher Prosperität
  • Erhaltung der Umwelt
  • Aufbau politischer und sozialer Institutionen
  • Förderung von Bildung und Wissenschaft
  • Schaffung von Sicherheit und Frieden
  • Erreichung von Gerechtigkeit, Fairness und sozialer Inklusion
  • Förderung von individueller und gemeinschaftlicher Entfaltung
  • Verbesserung der Lebensqualität der Individuen im System

Der Junge stieß einen Freudenschrei aus und schlang die Arme um die alte Mutter Akka. Die anderen Wildgänse strichen mit den Schnäbeln an ihm auf und nieder und drängten sich um ihn. Sie klagten und schnatterten und wünschten ihm auf alle mögliche Weise Glück, und er sprach auch mit ihnen und dankte ihnen für die wunderbare Reise, die er in ihrer Gesellschaft gemacht hatte. Aber auf einmal wurden die Wildgänse so merkwürdig still, als wollten sie sagen: »Ach, er ist ja ein Mensch! Er versteht uns nicht; wir verstehen ihn nicht!«

Nils Holgerssons wunderbare Reise durch Schweden

3 thoughts on “Determination

  1. Determination ist in der Biologie die Zuordnung eines Lebewesens zu einer Art. Dies gelingt auch dort mitunter nur auf höherer Ebene. Die Zitate von Lagerlöf passen also in mehrfacher Hinsicht zum Thema.

    1. Es ist die im Artikel beschriebene Unbegrenztheit, die es manchmal schwierig macht, bestimmte Individuen oder Lebewesen eindeutig einer Art oder einem sozialen System zuzuordnen. Diese gewisse Unschärfe kommt in der Theorie darin zum Ausdruck, dass Synthalpie nicht abgeschirmt werden kann. Ganz offensichtliche Beispiele sind Organismen, die sich in einer frühen Entwicklungsphase befinden oder Hybride von verschiedenen Arten oder Kobolde.
      Die Zitate von Selma Lagerlöf passen in der Tat in mehrerer Hinsicht zum Thema, da sie die Idee des Zusammenlebens verschiedener Arten und Individuen in wechselnden Umgebungen darstellen und betonen, wie wichtig es ist, sich an die Umwelt anzupassen und zu kooperieren, um zu überleben.

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