Wachstum
Our vision and policies should be based on an integrated view of the economy as a subsystem of the finite and non-growing ecosphere.
Herman Daly, Blue Planet Prize (Tokyo 2014)
Wachstum – Von Mengenlogik zur Qualität
Bäume wachsen in die Höhe, bis Statik, Versorgung und Windlast zusammenpassen. Es endet das Längenwachstum. Dann verlagert sich das Wachstum in die Qualität: Jahresringe verdichten sich, die Krone wird widerstandsfähig, die Wurzeln greifen tiefer. Statik, Versorgung und Windlast finden miteinander ins Gleichgewicht. Beim Menschen verhält es sich ähnlich. Die Körperlänge nimmt zu, bis die Reifung einsetzt; danach besteht Wachstum vor allem in Funktion, Können, Urteil und Beziehung. Die Natur kennt den Moment, an dem „mehr“ nicht größere Länge bedeutet, sondern Qualität. Genau diesen Übergang verfehlt unsere gesellschaftliche Vorstellung von Wachstum noch viel zu oft. Wir messen Zuwachs mit einer Zahl, feiern ihn, verwechseln ihn mit Wohlergehen – und verlieren den Blick für das, was ein System tatsächlich trägt.
Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) ist für die Buchhaltung von Marktproduktion nützlich, als Kompass für gesellschaftliche Steuerung jedoch untauglich. Es rechnet Reparaturen – auch die von Umweltschäden – zum Erfolg, ignoriert unbezahlte Sorgearbeit und Ökosystemleistungen, verwischt Verteilung und blendet ökologische Budgets aus. Als Reduktion eines komplexen Systems auf eine Zahl zieht es alles in seinen Sog: Wer nur eine Kurve steigen sehen will, setzt Anreize, die Durchsatz belohnen, auch wenn sie Struktur zerlegen. Mathematisch hat diese Fixierung ihre eigene Dynamik. Wenn man Prozentziele anlegt, entsteht leicht die „berühmte“ Exponentialfunktion. In den Indikatoren der „Großen Beschleunigung“ lässt sich seit der Mitte des 20. Jahrhunderts beobachten, wie sozioökonomische Größen und Umweltbelastungen gemeinsam steil nach oben gehen – eine Kurve, die lange flach bleibt und dann plötzlich hochschießt. In einer endlichen Ökosphäre ist das keine Petitesse, sondern ein Risikomultiplikator. Wer die Mengenlogik nicht begrenzt, wird die Grenzen als Ereignisse erleben.
Der Vorschlag dieses Kapitels ist schlicht: Wachstum sollte als Zunahme tragfähiger Kohärenz verstanden werden. Dafür verwenden wir den Begriff Synthalpie. Er beschreibt nicht eine einzelne Größe, sondern die Qualität der Verbindungen, die ein System stabilisieren. Anschaulich ist Synthalpie kein Balken, der länger wird, sondern ein Gewebe, das in mehrere Richtungen trägt. In der Sprache der Physik ist sie „tensoriell“: Sie hat Komponenten entlang vieler Achsen, diagonal und quer; sie erfasst Stabilität innerhalb von Bereichen ebenso wie die Kopplung zwischen ihnen. Man kann sich ein elastisches Kraft-Netz vorstellen. Die Diagonale steht für Festigkeit im Inneren eines Teams, einer Abteilung, einer Nachbarschaft. Die Neben-Diagonalen zeigen, wie gut diese Bereiche miteinander verbunden sind, wie reibungsarm Information, Kooperation, Vertrauen, Hilfe und Verantwortung zwischen ihnen fließen. Mehr Synthalpie bedeutet ein Netz, das Lasten trägt und beweglich bleibt – eine Geometrieänderung im Sozialraum, nicht die Vermehrung eines Stoffes.
Ein städtisches Beispiel macht das greifbar. Man kann immer neue Straßen bauen, stolz auf Kilometerangaben blicken und das Ergebnis „Kapazität“ nennen. Oder man verbindet Radwege, schafft verlässliche Takte, Datenplattformen, Mikrohubs und verbindet Lieferzonen so miteinander, dass Wege kürzer werden, Umstiege gelingen, Leerlauf sinkt und Erreichbarkeit steigt. Die Transportmenge mag gleich bleiben; dennoch ist die Stadt „gewachsen“, weil ihre Formqualität zugenommen hat. Dieses Wachsen der Kohärenz lässt sich auf Organisationen, Verwaltungen, Bildungssysteme und digitale Infrastrukturen übertragen. Es ist eine „Reifung“ der Systemform. Und eine Verwaltung wächst, wenn sie offene Daten nicht sammelt, sondern nutzbar macht – wenn Rückmeldeschleifen Antworten geben, statt Akten zu füllen.
Die Gegenstücke dazu sind die Pathologien des Wachstums. Exponentialitis ist die bekannteste: Das oben skizzierte, jäh steigende Muster bei Nutzerzahlen oder Umsätzen, dem kein Strukturaufbau entspricht. Der Effekt ist: Überlast, schlechtere Qualität, Vertrauensverlust, Externalisierung von Kosten: Gewinne werden intern gebucht, Kosten bei Boden, Wasser, Klima, stummen Dritten, werden abgewälzt . So entsteht Schein-Effizienz, weil das Preissignal die Wahrheit nicht erzählt. Monokultur ist – nicht nur in der Landwirtschaft – die Verarmung auf eine Kennzahl. Just-in-Time-Ketten glänzen im Mittelwert und versagen im Ausnahmezustand; soziale Medien optimieren Interaktion und erzeugen Echokammern; Landwirtschaft treibt Ertragsspitzen, verliert aber Resilienz. Und schließlich die Proliferation ohne Regulation, eine Krebsmetapher: Teile maximieren ihr Wachstum auf Kosten des Ganzen. In all diesen Fällen sieht das Gewebe in der Fläche stark aus, aber die Querfäden sind ausgedünnt. Einzelne Teile sind stark, doch unter Last reißen die Nahtstellen. Die Antwort darauf ist nicht Verzicht als Moralformel, sondern Regelung des Netzwerks: Klarheit über Budgets und Rollen, echte Stop-Signale, Audits, Redundanz, kurze Feedbackschleifen. Wachstum bedeutet, Querfäden zu knüpfen, nicht nur Einzelnen zu folgen.
Wer beurteilen will, ohne der Reduktion auf eine Zahl in die Falle zu gehen, braucht eine Darstellung, die dem “Gewebe” gerecht wird. Ein Dashboard mit einigen, wenigen,”sprechenden” Feldern taugt genau dafür. Man kann es als zweidimensionale Projektion des Synthalpie-Tensors lesen: Kooperation, Kommunikation, Ressourcennutzung, Nachhaltigkeit – nicht als Dekoration, sondern als Taktgeber. In der Praxis markiert man Schwellen, beobachtet Trends und entscheidet zyklisch, wo der Flaschenhals liegt, und justiert entlang der schwächsten Stelle. Die Ausrichtung ist einfach formuliert: Kohärenz je Ressourceneinheit. Gemeint ist die Frage, wie viel tragfähige Verbindung pro eingesetzter Energie, pro Stunde, pro Euro entsteht. Wachsen diese Quotienten, wächst das System – ob das Volumen mitwächst, ist nachrangig. Die übliche Angst, ohne BIP-Plus bräche Wohlstand weg, verwechselt Mittel und Form. Wohlstand entsteht aus Koordination, Verlässlichkeit und Lernen, nicht aus Summen, sondern aus Form.
„Entkopplung“ – also die Hoffnung, die Wirtschaft könne weiter wachsen, während Umweltbelastungen absolut sinken – wird oft wie ein Zauberspruch ausgesprochen. Man verweist auf neue Technologien, Wiederverwertung, etc. Lokal und temporär gibt es zwar relative Verbesserungen, etwa weniger Emissionen pro Einheit Wertschöpfung. Global aber wachsen die großen Belastungsindikatoren mit dem Welt-BIP weiter, stärker und schneller als je zuvor. Der Materialfußabdruck, die Emissionen, die Beanspruchung von Böden wachsen seit Jahrzehnten zu neuen Rekordwerten, und damit auch der Druck auf ökologische Systeme (Artenvielfalt, etc.). Damit Entkopplung funktioniert, müsste die absolute Summe aller wesentlichen Belastungen dauerhaft sinken, während die Ökonomie weiter wächst. Das ist bisher nicht annähernd gelungen – das Gegenteil ist der Fall. Werden z.B. die Motoren von Pkw’s effizienter, wächst gleichzeitig deren Gewicht und PS-Leistung überproportional stärker und macht damit den Effizienzgewinn mehr als zunichte.
Metamorphose ist das Wort für den eigentlichen Wachstumssprung. Systeme wachsen nicht, indem sie die gleiche Zelle millionenfach kopieren, sondern indem sie Funktionen ausdifferenzieren, Koordination entwickeln und interne Regulierung etablieren. Ein Projekt wird zur Institution, wenn die Geodäten – die „natürlichen Pfade“ durch das Gelände aus Möglichkeiten – so gelegt sind, dass der kürzeste Weg der kooperative ist. An diesem Punkt werden Differenzierung und Koordination selbst zu Zielen. Synthalpieziele helfen, diese Übergänge zu steuern, statt sie als Nebenprodukte von Skalierung zu erhoffen.
Bleibt die Frage nach der Grenze. Seit dem ersten Bericht an den Club of Rome ist die Logik verstanden: Exponentielles Mengenwachstum trifft auf endliche Ressourcen und begrenzte Senken, ohne Gegenkopplung entstehen Überschüsse, Kipppunkte, Kollaps. Entscheidend ist dabei nicht, ob eine Kurve exakt stimmt, sondern die physische Rückmeldung von Natur & Erde: Trockenheit, Missernten, weitere versicherungsunfähige Risiken, Lieferketten, die unter den eigenen Beschleunigungen zerbrechen, Infrastrukturen, die für Ausnahmezustände nicht gebaut wurden, Kipppunkte eines nichtlinearen dynamischen Systems, die überschritten wurden. Man kann das als Drohung lesen – oder als Einladung zur Gestaltung. In der zweiten Lesart wird die Grenze zum Rahmen, in dem Formqualität wachsen kann. Weniger Volumen kann dann mehr Synthalpie bedeuten, weil das Gewebe dichter und tragfähiger wird.
Daraus folgert eine Entscheidung, die nicht verschwindet, nur weil man sie vertagt. Entweder wir beenden die Mengenlogik dort, wo sie die Form zerstört und überführen den Rest des Wachstums in Reifung – oder die Natur beendet sie für uns. Die Natur/Physik verhandelt nicht über Summen, sondern über Formen. Wer sie ernst nimmt, entdeckt, dass Freiheit nicht im Immer-Mehr liegt, sondern im Maß. In der Kunst, Netze so zu knüpfen, dass sie halten – für uns, füreinander und für die Welt, die uns trägt.
Ecological reductionism begins with the true insight that humans and markets are not exempt from the laws of nature.
Herman Daly, Blue Planet Prize (Tokyo 2014)

Die Menschen denken halt linear. Exponentielle Funktionen sind uns, auch genetisch bedingt, fremd. Räumlich und zeitlich betrachtet ist eine exponentielle Funktion ja auch ziemlich gut lokal, abschnittsweise durch eine lineare Funktion darstellbar. Der auf diese Weise begrenzte Horizont der Wahrnehmung führt dazu, Selbstoptimierung als Streben nach dem Maximum der linearen Funktion zu verfolgen. Dies trifft sowohl auf Staaten als auch auf einzelne Personen zu. Wie schade, dass dabei der Gesamtzusammenhang komplett verloren wird.